Kritisch hinterfragt: Das Konzept der psychologischen Sicherheit

Warum das Harvard-Konzept der psychologischen Sicherheit in der Führung oft nur Theorie bleibt – und weshalb dein Nervensystem das fehlende Puzzlestück ist, um wirklich erfolgreiche Teams zu führen.

Psychologische Sicherheit als Konzept

Psychologische Sicherheit im Team – jetzt mal ehrlich

Wer kennt nicht die Führungsidee von der „psychologischen Sicherheit“? In fast jedem Führungskräftetraining wird dieses Konzept der Harvard-Professorin Amy Edmondson wie ein heiliger Gral behandelt. Und das bereits seit den 90er Jahren. Kaum jemand würde daher heute noch bestreiten, dass Teams besser performen, wenn sich ihre Mitglieder trauen, Fehler zuzugeben und Ideen zu äußern, ohne Angst vor negativen Konsequenzen.

Ich habe jedes Mal gedacht „Klingt verdammt logisch!“ – nur um dann im Führungsalltag festzustellen, dass zwischen Theorie und Praxis eine große Lücke klafft.

Das Problem liegt nicht am Konzept selbst. Amy Edmondson hat durchaus gut und richtig beschrieben, was passieren muss, damit Teams psychologische Sicherheit empfinden. Aber was bisher offen blieb, ist die persönliche Rolle der Führungskraft dabei. Fehler tolerieren, okay. Aber was bedeutet das für meine innere Haltung, für mein Handeln? Wie toleriere ich Fehler, wenn mein innerer Kritiker das gar nicht zulässt?

Hier kommt die gute Nachricht: Die moderne Neurobiologie macht das Konzept endlich anschlussfähig. Sie erklärt nicht nur, warum psychologische Sicherheit so wichtig ist (Spoiler: unser Steinzeit-Gehirn funktioniert auch im modernen Büro nach uralten Überlebensprinzipien), sondern gibt uns konkrete Werkzeuge an die Hand, um sie tatsächlich zu erschaffen.

Das Konzept – kurz und knapp

Psychologische Sicherheit beschreibt eine Teamatmosphäre, in der Menschen ihre Meinung äußern, Fehler zugeben und Risiken eingehen können, ohne Angst vor negativen Konsequenzen haben zu müssen.

Amy Edmondson hat den Begriff in den 1990er Jahren populär gemacht, und Google untermauerte 2015 mit dem „Projekt Aristoteles“ dessen Bedeutung: Psychologische Sicherheit erwies sich als wichtigster Faktor für Teamerfolg – wichtiger als Kompetenz oder Struktur.

In Teams mit hoher Sicherheit bringen sich alle ein, werden Entscheidungen hinterfragt und Fehler als Lernchancen gesehen. Im Gegensatz dazu erkennst du geringe psychologische Sicherheit an Schweigen bei kritischen Themen, Schuldzuweisungen und politischem Taktieren. Ähnlich destruktiv wirkt toxische Harmonie, bei der dringend nötige Klarheit unter dem Mantel des Kuschelns erstickt wird.

Nach Edmondson schaffen Führungskräfte Sicherheit durch eigene Fehlertoleranz, aktives Feedback-Einholen und Wertschätzung kritischer Stimmen.

Die unbequeme Wahrheit

Das reine Wissen um psychologische Sicherheit allein verändert allerdings noch keine Teamkultur. Das Problem der Edmondsonschen Theorie liegt in deren Übersetzung in die Praxis. Sie setzt implizit voraus, dass Führungskräfte jederzeit rational handeln können. Die Realität sieht aber doch anders aus: Unter Druck greifen wir automatisch auf eingefahrene Muster zurück, die tief in unserem Nervensystem verankert sind.

Stell dir vor, du leitest ein wichtiges Meeting. Ein Teammitglied äußert Bedenken zu deinem Lieblingsansatz. Rational weißt du: Das ist genau die Offenheit, die du fördern willst. Aber dein Körper reagiert anders – vielleicht mit Anspannung oder dem Impuls, das Thema schnell abzuhaken. Dein Nervensystem hat diese Kritik als potenzielle Bedrohung interpretiert und eine unwillkürliche Schutzreaktion ausgelöst. 

In solchen Momenten ist es fast unmöglich, die Prinzipien psychologischer Sicherheit authentisch umzusetzen. Dein Team spürt instinktiv den Widerspruch zwischen deinen Worten („Sagt ruhig, was ihr denkt!“) und deinen subtilen körperlichen Signalen. Dieser Widerspruch sendet unbewusst die Botschaft: „Vorsicht, hier ist es doch nicht so sicher!“ 

Der fehlende Baustein ist also nicht noch mehr Wissen über psychologische Sicherheit, sondern ein tieferes Verständnis deiner eigenen neurologischen Reaktionen – und wie du sie regulieren kannst.

Der neurobiologische Game-Changer

Die moderne Neurobiologie, und hier insbesondere die Erkenntnisse zur Funktionsweise unseres autonomen Nervensystems, geben uns praktische Ansätze.

Unser Nervensystem kennt drei grundlegende Zustände, die direkt beeinflussen, wie wir als Menschen, also auch als Führungskräfte auftreten:

  1. Safe & Flow: Hier fühlst du dich sicher und verbunden. Du bist präsent, offen für andere Perspektiven und kannst authentisch führen. Dein Team spürt diese Offenheit unmittelbar.
  2. Fight & Flight: Bei wahrgenommener Bedrohung wirst du kontrollierender, unterbrichst häufiger oder verteidigst deine Position vehementer als nötig – selbst wenn du rational weißt, dass du anders handeln solltest.
  3. Freeze & Fawn: Bei Überforderung weichst du schwierigen Themen aus, stimmst zu, ohne wirklich dahinterzustehen, oder verschiebst wichtige Entscheidungen.

Das Entscheidende: Diese Zustände sind keine bewusste Wahl, sondern automatische Reaktionen deines Nervensystems auf Reize deiner Umgebung. Lies dazu auch gerne den Artikel Führung, wie Menschen sie brauchen.

Selbstcheck: In welchem Zustand führst du?

Reflektiere einmal ehrlich: Welches dieser Muster erkennst du bei dir in herausfordernden Führungssituationen?

  • Neigst du dazu, in Meetings dominanter zu werden, wenn du unter Druck stehst?
  • Vermeidest du schwierige Gespräche mit bestimmten Teammitgliedern?
  • Merkst du manchmal, dass du zustimmst oder lächelst, obwohl du innerlich anderer Meinung bist?

Jedes dieser Muster sendet subtile Signale an dein Team – und schafft oder untergräbt psychologische Sicherheit, unabhängig davon, was du sagst.

Der neurobiologische Ansatz bietet zwei revolutionäre Einsichten:

Erstens: Die Herausforderung bei psychologischer Sicherheit liegt nicht im Wissen, sondern in deiner Fähigkeit, deinen eigenen Nervensystemzustand zu regulieren.

Zweitens: Diese Fähigkeit kann gezielt entwickelt werden. Du kannst lernen, auch unter Druck im „Safe & Flow“-Zustand zu bleiben – der Grundvoraussetzung für echte psychologische Sicherheit im Team.

Der Business-Case ist dabei eindeutig: Führungskräfte, die ihre neurologische Regulation beherrschen, treffen bessere Entscheidungen unter Druck, bleiben auch in Krisen handlungsfähig und schaffen ein Umfeld, in dem Innovation gedeihen kann.
McKinsey fand heraus, dass Unternehmen mit psychologisch sicheren Teams 27% weniger Fluktuation erleben, während Google bestätigte, dass solche Teams überdurchschnittlich profitabel arbeiten. Warum? Weil in psychologisch sicheren Teams weniger Energie für Politik und Absicherung verschwendet wird. Stattdessen fließt diese Energie in Produktivität und Innovation.

Doch der Schlüssel liegt eben nicht im Team, sondern bei dir selbst: Wenn dein Nervensystem im Safe & Flow bleibt, schafft das die Grundvoraussetzung für diese Performance-Steigerung. Neurobiologische Regulation ist damit kein Soft Skill, sondern ein handfester Wettbewerbsvorteil.

Psychologische Sicherheit ist persönliche Sicherheit – ein paar Tipps

Wie kannst du dein Nervensystem gezielt beeinflussen? Der Weg zu persönlicher Sicherheit beginnt mit der bewussten Entscheidung für die eigene Entwicklung. Es gibt keine schnellen Lösungen, aber hier drei praxisnahe Ansätze für deinen Führungsalltag:

1. Werden vor Tun: Erkenne deine Muster

Der erste Schritt ist, deine typischen Reaktionsmuster zu erkennen. In welchen Situationen verlässt du den „Safe & Flow“-Zustand?

Übung: Führe eine Woche lang ein kurzes „Nervensystem-Tagebuch“. Notiere abends: In welchen Situationen hast du heute Anspannung, Kontrolldrang oder Rückzug bei dir bemerkt? Diese Bewusstwerdung allein verändert bereits deine Handlungsfähigkeit.

2. Der 2-Minuten-Reset für herausfordernde Situationen

Wenn du merkst, dass dein System in Alarmbereitschaft geht, kannst du mit dieser einfachen Technik gegensteuern:

  • Nimm bewusst drei tiefe Atemzüge (3 Sekunden ein, 6 Sekunden aus)
  • Spüre kurz deine Füße auf dem Boden und deine Sitzfläche auf dem Stuhl
  • Erinnere dich an eine Situation, in der du dich sicher und kompetent gefühlt hast

Diese Mini-Intervention bringt dich neurobiologisch wieder näher an den „Safe & Flow“-Zustand.

3. Die Verbindung stärken

Unser Nervensystem reguliert sich am besten in sicherer Verbindung mit anderen.

Praktischer Ansatz: Suche dir bewusst Sparringspartner oder Mentoren, mit denen du offen über Führungsherausforderungen und deine Muster sprechen kannst. Diese Gespräche trainieren dein Nervensystem darin, im verbundenen Zustand zu bleiben.

Dein Nervensystem ist plastisch und lernfähig. Jede bewusste Regulation ist wie ein Trainingsreiz, der deine „Safe & Flow-Muskulatur“ stärkt. Mit der Zeit wirst du feststellen, dass du auch in anspruchsvollen Situationen häufiger und schneller in einen Zustand kommst, in dem du präsent, offen und authentisch führen kannst.

Fazit: Psychologische Sicherheit beginnt bei dir

Amy Edmondson hat mit dem Konzept der psychologischen Sicherheit ein wertvolles Ziel formuliert. Mit der modernen Neurobiologie lassen sich die menschlichen Zusammenhänge und deine Rolle als Führungskraft dabei nun schlüssig erklären: Nur wenn du selbst im „Safe & Flow“-Zustand bist, kannst du eine echte Atmosphäre von Vertrauen schaffen. Die gute Nachricht: Mit Bewusstheit für deine Muster und gezielten Übungen zur Selbstregulation kannst du diesen Zustand immer häufiger erreichen. Was du erntest, sind belastbare Beziehungen mit deinem Team und ein konstruktives Miteinander, das Energie schenkt, statt sie zu rauben.

Dein nächster Schritt? Beobachte morgen bewusst, in welchen Situationen dein Nervensystem in Fight/Flight oder Freeze/Fawn wechselt. Diese Selbstwahrnehmung ist der Startpunkt für echte Veränderung – und für eine Führung, die psychologische Sicherheit nicht nur predigt, sondern verkörpert.

Zu zweit gelingt das besser, daher unterstütze ich dich auf deinem Weg, indem wir gezielt alte Muster auflösen. Sieh dir auch meinen Onlinekurs an, um tiefer ins Thema zu kommen.

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